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Baudrillard

.....................................Die Zeit verrinnt in der Vernetzung, in potentiell
unendlichen Verästelungen. Die Zeit ist nicht mehr unser Feind oder Sklave,
ein Zwang oder Luxus.

Die Zeit ist unser Partner und steht uns voll und ganz
zur Verfügung. In einem Zeitalter der Kommunikation ist es verboten, sich
loszulösen im aktiven sozialen, im interaktiven, informatischen Leben. Das
Prinzip des vernetzten Systems selbst und der Kommunikation impliziert die
absolute moralische Verpflichtung, angeschlossen zu bleiben. Physiker, die
jeden Monat ein neues Teilchen erfinden. Das eine verdrängt nicht das
andere, sie gehen auseinander hervor und gesellen sich auf einer
hypothetischen Bahn. Wenn  die Dinge, die Zeichen, die Handlungen von
ihrer Idee, ihrem Begriff, ihrem Wesen, ihrem Wert, ihrer Referenz, ihrem
Ursprung und ihrer Bestimmungbefreit sind, treten sie in endlose Selbstreproduktion.
Die Dinge funktionieren weiter, während die Idee von ihnen längst verloren
gegangen ist. Sie funktionieren weiter in totaler Gleichgültigkeit gegenüber ihrem
eigenen Gehalt. Und das Paradoxe ist, dass sie umso besser funktionieren.
So ist die Idee des Fortschritts verloren gegangen, aber der Fortschritt geht weiter.
Die Idee desReichtums, die der Produktion zugrundeliegt, ist verschwunden,
aber die Produktion setzt sich aufs Schönste fort. Sie beschleunigt sich in dem Maße,
wie siegegenüber ihren ursprünglichen Zweckengleichgültig wird. Auch die Idee
desPolitischen ist verloren gegangen, aber das politische Spiel geht in
geheimer Gleichgültigkeit weiter, ohne dass ein eigener Einsatz nötig wäre.
Das Fernsehen läuft in totaler Indifferenz gegenüber seinen eigenen Bildern
 (so könnte es sogar weitermachen, wenn der Mensch verschwunden ist).
                           Gibt es nicht in jedem System, in jedem Individuum einen
geheimen Trieb, sich von der eigenen Idee, dem eigenenWesen freizumachen,
um in alle Richtungen wuchern und sich in alleRichtungen fortsetzen zu können?
Die Folgen dieser Dissoziation können nur fatal sein. Alle Dinge, die der Idee
von sich verlustig gehen, sind wie der Mann, der seinen Schatten verloren
hat - sie verfallen in ein Delirium und verlieren sich darin.
Zu Zeiten der sexuellen Befreiung hieß das Schlüsselwort: ein Maximum
an Sexualität bei einem Minimum an Fortpflanzung. Heute wird eher
umgekehrt von der Clon-Gesellschaft geträumt: ein Maximum an Fortpflanzung
bei so wenig Sex wie möglich.
Einst war der Körper die Metapher für die Seele, dann für den Sex, heute ist er
Metapher für gar nichts mehr, ist er Ort der Metastase, der maschinellen
Verkettung all seiner Vorgänge, einer unendlichen Programmierung ohne
Symbolbildung, ohne transzendentes Ziel, in reiner Promiskuität mit sich selbst,
die zugleich die der Netze und integrierten Schaltkreise ist.

Die Möglichkeit der Metapher verschwindet aus allen Bereichen. Darin
liegt einer der Aspekte der allgemeinen Transsexualität, die sich weit über
den Sex hinaus erstreckt - in alle Disziplinen hinein, die ihren spezifischen
Charakter verlieren und in einen Vorgang der Konfusion und Ansteckung
und der vitalen Ununterscheidbarkeit eintreten, der das allererste Ereignis
unserer neuen Ereignisse ist. Das uns auferlegte Gesetz ist das der Vermengung
aller Gattungen. Alles ist sexuell. Alles ist politisch.
Alles, ist ästhetisch. Und zwar zur gleichen Zeit. Alles hat, besonders seit
'68, einen politischen Sinn bekommen: das Alltagsleben, aber auch der
Wahnsinn, die Sprache, die Medien, aber auch das Begehren wurden in dem
Maße politisch, als sie in die Sphäre der Befreiung und der kollektiven
Massenprozesse eingetreten sind. Gleichzeitig ist alles sexuell und Objekt
der Begierde: Macht, Wissen, alles lässt sich als Phantasma und
Verdrängung interpretieren; stereotyp ist das Sexuelle überallhin
vorgedrungen. Gleichzeitig wird alles ästhetisiert: das Politische ästhetisiert
sich im Spektakel, der Sex in Werbung und Porno, das Gesamt der
Aktivitäten in dem. was man gemeinhin Kultur nennt: eine Art
Semiologisierung durch Medien und Werbung befällt alles - Xeroxifizierung
der Kultur. Jede Kategorie wird zu ihrem höchsten Verallgemeinerungsgrad
gebracht und verliert so mit einem Mal jede Besonderheit und geht in allem
anderen auf. Wenn alles politisch ist, ist nichts mehr politisch, und das Wort
verliert seinen Sinn. Wenn alles sexuell ist,ist nichts mehr sexuell, und der
Sex verliert jede Bestimmung. Wenn alles ästhetisch ist, ist nichts mehr
schön oder hässlich, die Kunst selbst verschwindet.
Diesen paradoxen Stand der Dinge, der  gleichzeitig die totale Erfüllung einer
Idee, die Vollendung der modernen Bewegung ist und ihre Verwertung, ihre
Beseitigung in der Übertreibung und in der Ausweitung über die eigenen Grenzen
hinaus ist, kann man in einer Formel zusammenfassen: transpolitisch, transsexuell,
transästhetisch. Es gibt keine Avantgarde mehr, weder eine politische noch
eine sexuelle oder künstlerische, die über die Fähigkeit der Vorwegnahme
verfügte und somit über die Möglichkeit einer radikalen Kritik im Namen
des Begehrens, im Namen der Revolution, im Namen der Befreiung der
Formen. Die revolutionäre Bewegung ist überholt[revolu].
Die glorreiche Bewegung der Moderne hat nicht eine Umwandlung aller Werte,
gebracht, sondern nur Zerstreuung und Involution des Werts, mit dem Ergebnis
totaler Konfusion und derUnmöglichkeit, das Prinzip sowohl der ästhetischen wie
sexuellen oder politischen Bestimmung der Dinge wieder in den Griff zu
bekommen.Das Proletariat konnte sich als solches nichtnegieren, das hat
sich nach eineinhalbJahrhunderten Geschichte seit Marx erwiesen. Es
konnte sich als Klasse nicht selbst aufheben und damit auch nicht die
Klassengesellschaft abschaffen. Vielleicht, weil es gar keine Klasse
war.Eine wirkliche Klasse, ist öfter zu hören, ist die Bourgeoisie gewesen —
insofern konnte auch nur sie allem sich als solche negieren. Das hat sie in
der Tat getan, und das Kapital mit ihr. Daraus ging eine klassenlose
Gesellschaft hervor, die mit einer aus einer Revolution und einer
Selbstaufhebung des Proletariats entstandenen nichts gemein hat. Das
Proletariat als solches ist einfach verschwunden. Es hat sich zusammen mit
den Klassenkämpfen aufgelöst. Zweifellos wäre das Kapital, wenn es sich
nach seiner eigenen widersprüchlichen Logik entwickelt hätte, vom
Proletariat vernichtet worden. Die Analyse von Marx bleibt idealiter
unanfechtbar. Er hat nur die Möglichkeit nicht vorhergesehen, dass sich das
Kapital angesichts dieser hereinbrechenden Bedrohung in gewisser Weise
trans-politisieren könnte und sich auf eine Umlaufbahn jenseits der
Produktion und der politischen Widersprüche begeben könnte, sich in einer
flottierenden. überschwenglichen und beliebigen Form verselbständigen
könnte und die Welt so unter seinem Bild totalisieren könnte.

Das Kapital führt die politische Ökonomie und das Wertgesetz in eine Sackgasse:
in diesem Sinne gelingt es ihm, seinem eigenen Ende zu entgehen. Es zirkuliert
ab da jenseits seiner eigenen Bestimmungen und gänzlich ohne Anker-
punkt. Das Eingangsereignis dieser Mutation warzweifellos die Krise von
1929; der Krach von 1987 war nur eine spätere Episode desselbenVorgangs.
In der revolutionären Theorie war auch die Utopie lebendig, dass der Staat
absterben würde, dass das Politische als solches sich in der Apotheose und
Transparenz des Sozialen negieren würde. Daraus ist nichts geworden. Das
Politische ist zwar verschwunden, aber es hat sich nicht ins Soziale
transzendiert, es hat das Soziale mit in sein Verschwinden hineingezogen.

Auch der Kunst ist es nicht gelungen, sich entsprechend der
ästhetischen Utopie der Moderne als Idealform des Lebens zu transzendieren
 (früher musste sie sich nicht zu einer Totalität aufschwingen, da es sie
schon gab, sie war religiös). Die Kunst hat sich nicht in einer transzendenten
Idealität, sondern in einer allgemeinen Ästhetisierung des Alltagslebens
abgeschafft, sie ist zugunsten einer reinen Zirkulation der Bilder in einer
Transästhetik der Banalität verschwunden. In diesem Punkt ist die Kunst
dem Kapital sogar voraus. Wenn das entscheidende politische Ereignis die
strategische Krise von 1929 war, mit der sich das Kapital für die
transpolitische Ära der Massen öffnete, war die entscheidende Episode in
der Kunst sicherlich Dada und Duchamp, in der sich die Kunst unter
Verzicht auf die eigene Regel des ästhetischen Spiels für die transästhetische
Ära der Banalität der Bilder öffnete. Auch die sexuelle Utopie wurde nicht
eingelöst. Sie hätte für den Sex bedeutet, sich alsselbständige Aktivität zu
negieren und sichim gesamten Leben zu erfüllen — davonträumte noch die
sexuelle Befreiung:totales Begehren und seine Erfüllung injedem von uns,
ob Mann oder Frau,geträumte Sexualität, Verklärung desBegehrens,
 unabhängig vomGeschlechtsunterschied. Über die sexuelleBefreiung
ist es der Sexualität allerdingsnur gelungen, sich im beliebigenAustausch der
Geschlechtsmerkmale zuverselbständigen. Dasselbe gilt für dieInformation:
Der Wissens-exzeß verteiltsich an der Oberfläche gleichgültig in
alleRichtungen. »Es« kommuniziert, wie manso schön sagt, dank eines
einzigartigen undaugenblicklichen Stromkreises. GuteKommunikation muss
schnell gehen: fürdas Schweigen ist keine Zeit. DasSchweigen ist aus den
Monitoren verbannt, verbannt aus der Kommunikation. DieMedienbilder
 (und die medialen Texte sindwie Bilder) schweigen nie: Bilder
undBotschaften müssen ohne Unterbrechungaufeinander folgen. Schweigen
aber wäreeine solche Synkope im Kreislauf, einekleine Katastrophe, ein
Lapsus, der imFernsehen beispielsweise, etwas
höchstInterpretationsbedürftiges wäre — ein mitAngst und Jubel
aufgeladener Bruch, derklarstellt, dass diese ganze Kommunikationeine
schrecklich überzogene Veranstaltungist, die haltlose Fiktion des
Bildschirms,die die Leere der Mattscheibe wettmacht, auch die unserer
mentalen Mattscheibe, auf deren Bilder wir nicht weniger gespannt
lauern.

Der ursprüngliche Humanismus, der der Aufklärung, gründet sich auf
die besonderen Eigenschaften des Menschen, auf seine Tugenden und seine
natürlichen Gaben, auf sein Wesen, das mit dem Recht auf Freiheit und die
Ausübung dieser Freiheit verbunden ist. Der heutige Humanismus in seiner
erweiterten Form ist eher mit der Erhaltung des organischen Seins und der
Gattung verbunden. Die Menschenrechte rechtfertigen nicht mehr so sehr
das souveräne moralische Wesen als vielmehr die Vorrechte einer bedrohten
Gattung. Mit einem Mal werden sie problematisch, denn sie stellen die
Frage nach den Rechten der anderen Arten, der anderen Rassen, der Natur,
denen gegenüber sie sich abgrenzen bzw. -definieren müssen.  Gibt es aber
eine Definition des Menschlichen in Begriffen der Genetik? Und wenn es sie
gibt, könnte es dann ein Recht der Gattung auf ihr eigenes Genom und ihre
eventuelle genetische Verwandlung geben? Wir haben 98 Prozent unserer
Gene mit den Affen und 90 Prozent mit den Mäusen gemeinsam. Welches
Recht kommt den Affen und den Mäusen aufgrund dieses gemeinsamen
Erbes zu? Übrigens scheinen 90 Prozent der Gene unseres Genoms keinerlei
Nutzen zu haben. Welches Existenzrecht besitzen diese Gene?

Eine entscheidende Frage, denn wenn man sie für nutzlos erklärt, gibt man sich
das Recht, sie auszuschalten.Dasselbe Problem besteht für jedeneinzelnen
Teil der Menschheit selbst:Sobald das spezifisch Menschliche nichtmehr in
Begriffen der Freiheit und derTranszendenz definiert wird, sondern
insolchen der Funktionen und desbiologischen Gleichgewichts,
verschwindetdas Eigentümliche des Menschen und alsoauch des
Humanismus. Der abendländischeHumanismus sah sich bereits im
16.Jahrhundert durch das Auftauchen andererKulturen bedroht. Heute nun
springt nichtmehr nur der Riegel einer Kultur, sondern der der ganzen
Gattung auf:anthropologische Deregulierung undgleichzeitige Deregulierung
allermoralischen, rechtlichen, symbolischenRegeln, die dem Humanismus
innewohn-ten. Kann man denn in der Perspektive derAutomaten, Klone und
Chimären, die diemenschliche Gattung ablösen werden,noch von Seele und
Bewusstsein, nochvom Unbewussten sprechen? Durch dieseVerflüchtigung
der Grenzen desHumanen — nicht einmal ins Inhumanehinein, sondern in
etwas, das jenseits desHumanen und des Inhumanen liegt, in diegenetische
Simulation des Lebendigen hinein — ist nicht nur das individuelleKapital
bedroht, sondern auch das phylogenetische Kapital. DasWechselspiel
zwischen dem Humanenund dem Inhumanen, ihr Gleichgewicht,ist
durchbrochen.                   Das eventuelle Verschwinden des Humanen wiegt
gewiss schwer, doch ist das Verschwinden des Inhumanen nicht weniger
schwerwiegend. Die Eigenart all dessen, was nicht der Mensch ist und was
im Menschen selbst inhuman ist, ist bedroht, und zwar zugunsten einer
Hegemonie des Humanen in seiner überaus modernen, überaus rationalen
Definition. Der wahre Triumph eines Einheitsdenkens des Humanen,
natürlich in seiner abendländischen Definition unter dem Zeichen des
Allgemeinen und Universellen, des Guten und der Demokratie. Die
Menschenrechte sind heute der Motor dieses anthropischen, dieses
anthropokratischen Denkens, hinter dem das Humane und das Inhumane
inmitten ihres formalen Widerspruchs wuchern, was in ein und derselben
Bewegung zur Zunahme der Menschenrechte und der
Menschenrechtsverletzungen führt.

Die anderen Kulturen kannten diese Unterscheidung zwischen dem Humanen
und dem Inhumanen nicht. Wir haben sie erfunden, und wir sind auch dabei,
sie zu verwischen, nicht mittels einer höheren Synthese, sondern durch ihre
Auflösung in einer undifferenzierten technischen Abstraktion, der
schwindelerregenden Perspektive einer endgültigen Lösung entsprechend.


Es heißt, dass das genetische Schicksal des Klons, wie auch immer es im
einzelnen aussehen mag, niemals exakt dasselbe wie das des Originals sein wird
(natürlich nicht, da es ja ein Original vor ihm gegeben haben wird). Man habe von der
biologischen Klonierung sozusagen nichts zu befürchten, denn die Kultur
sorge auf alle Fälle für Differenzierung. Das Heil liege im Erworbenen und
in der Kultur, sie allein retten uns vor der Hölle des Selben. Nun ist es aber
genau umgekehrt. Die Kultur ist es, die uns klont, und die mentale Klonung
geht der biologischen weit voraus. Heutzutage unterliegen wir der
kulturellen Klonung durch das Erworbene im Zeichen des Einheitsdenkens.
Es sind die Ideen, die Lebensweise, das Milieu und der kulturelle Kontext,
durch die die angeborenen Unterschiede am sichersten annulliert werden.
Das Schulsystem, die Medien, die Massenkultur und -Information sind es,
die dafür sorgen, dass die Menschen zu Kopien werden, die einander
entsprechen.Und diese faktische Klonung, diesoziale, die industrielle
Klonung derMenschen und Dinge, ist die Grundlage,auf der das biologische
Denken desGenoms und der genetischen Klonungentsteht, welches die
mentale undverhaltensmäßige Klonung nursanktioniert. Das hat
Einfluss auf alleÜberlegungen hinsichtlich derpräskriptiven Grenzen und der
Rechte des Individuums angesichts deswissenschaftlichen und
technischenExperiments. All das, was heutzutage inden Ethikkommissionen
und imkollektiven Bewusstsein von sich redenmacht, diese ganze
Spekulation hatkeinerlei Sinn (außer einenpseudomoralischen und
pseudophilo-sophischen), solange unsere Kultur der Differenz selbst
ameffektivsten im Sinne derUndifferenziertheit, des Human Xerox und des
Einheitsdenkens agiert.

Diese ganze Geschichte mit den Klonen kann
allerdings auch eine völlig unerwartete Seite aufweisen. Der Klon kann so
als Parodie auf das Original, als dessen ironische und groteske Version
erscheinen. Man kann sich von da ausgehend alle möglichen Situationen
vorstellen, die unsere »ödipale« Psychologie völlig umkrempeln würden. So
zum Beispiel den künftigen Klon, der seinen Vater beseitigt, nicht um mit
seiner Mutter zu schlafen — was nunmehr unmöglich ist, da es ja nur mehr
eine Mutter-Zelle gibt und der Vater durchaus auch eine Frau sein kann —,
sondern um seinen Status eines Originals wiederzuerlangen. Oder, im
umgekehrten Fall, das durch sein Double disqualifizierte Original, das sich
an seinem Klon rächt. Alle Arten von Konflikten, die nicht mehr Konflikte
zwischen Kind und Eltern sein werden,sondern solche zwischen dem
Originalund seinem Double. Man kann sogareine unerhörte Funktion des
Klons insAuge fassen (im Gegensatz zu all jenenFunktionen, die man ihm
heutezuschreibt, und die alle in Richtung derFortdauer des Lebens weisen):
dieFunktion, den Todes- und den Selbstzerstörungstrieb zu befriedigen.Auf
diese Weise wird man seineneigenen Klon beseitigen und sich
ohnewirkliche Todesgefahr selbst zerstörenkönnen: Selbstmord
durchBevollmächtigung, durch einenStellvertreter. Doch unsere
Biologistenund Moralisten sind noch nicht so weit.Sie sind noch nicht in der
Lage, denTodestrieb als eine ebenso fundamentaleGegebenheit aufzufassen
wie dasStreben nach Unsterblichkeit, die beimKlonen übrigens gleichzeitig
im Spielsind, was die Sache nicht einfacher macht.

Eine der Wohltaten dieses Unternehmensbesteht ganz allgemein darin, uns 
vor Augen zu fuhren, was jede einigermaßenradikale Philosophie bereits wusste:
dass es nämlich keine Moral gibt, die diesemunmoralischen, diesem technischen
Wunsch nach Unsterblichkeitentgegenzusetzen wäre. Es gibt weder Naturgesetze
noch ein moralisches Gesetz, das aus diesen hervorginge. All dies ist eine idealistische
Vision, die sichübrigens auch in der Wissenschaft selbstfortsetzt- Also auch
weder Natur-rechtenoch Verbote, die sich auf eineAufteilung in Gut und
Böse gründenkönnten. Es geht nämlich nicht um Moral,sondern um
Symbolik. Es gibt eineSpielregel des Lebendigen, deren Formverborgen ist
und deren Zweck unerklärtbleibt. Das Leben ist nichts »wert«, nichteinmal
das menschliche, und wenn eskostbar ist, so nicht als Wert, sondern alsForm
— als eine exzessive undamoralische Form. Nicht austauschbargegen
irgendein anderes Leben oderirgendeinen anderen Wert. Diemenschliche
Gattung selbst ist nichtgegen irgendeine andere künstlicheGattung
austauschbar, selbst wenn dieseihr an Wert und
Leistungsvermögenüberlegen sein sollte. Der angeblichenImmoralität des
Klonens ist also keine»Ethik der Differenz« und keinehumanistische 
Wertmoralgegenüberzustellen, sondern eine höhereImmoralität der Formen
— kein abstrakter Rechtsbegriff, sondern einevitale Forderung, die auch
eine Forderungdes Denkens ist, da auch das Denken eineForm ist, die nicht
gegen irgendeineobjektive Zweckbestimmung oder seinkünstliches Double
ausgetauscht werdenkann. Und eben dadurch kann es unsschützen. So hätten
wir es also zunächsteinmal mit der Herrschaft unsterblicher Wesen zu tun,
und dann erst mit dersterblicher und geschlechtlichdifferenzierter
Wesen, die dieUnsterblichen überflügeln — wobeidiese aber heute mittels
all derTechniken des Klonens, der künstlichenUnsterblichkeit, der
Marginalisierungdes Sexus und des Todes eine
stilleRevanche nehmen? Noch aber ist nichtsentschieden, und man kann auf
einenentschlossenen Widerstand dersterblichen Wesen zählen, die wir
sind— einen Widerstand, der aus der Tiefeder Gattung kommt und der
endgültigenLösung in all ihren Formen seineAblehnung entgegensetzt.
Imbiologischen Tod neutralisieren sich Todund Körper, anstatt sich
gegenseitig zusteigern. Die Biologie brauchtgrundsätzlich eine Dualität von
Seeleund Körper. Der sterbliche Körper ist also nicht »realer« als die
unsterbliche Seele: beide resultieren gleichzeitig aus derselben Abstraktion,
und mit ihnen die beiden großen komplementären Metaphysiken: die
idealistische der Seele (mit all ihren moralischen Metamor-phosen) und die
»materialistische« des Körpers (mit ihren biologischen Fortsetzungen). 

                 
Die Biologie lebt zwar auch von derTrennung Seele und Körper, wie
jeglichechristliche, oder cartesianischeMetaphysik, aber sie sagt es nicht
mehr — die Seele zeigt sich nicht mehr, als ideales Prinzip ist sie
vollständig in die moralische Disziplin der Wissenschaft, in das
Legitimitätsprinzip technischer Eingriffe in das Reale und die Welt, sowie in
die Prinzipiendes »objektiven« Materialismus übergegangen.
Diejenigen, die im Mittelalter den Diskurs der Seele führten, waren weniger
weit von den »Zeichen des Körpers« (Octavio Paz) entfernt. Der Tod ist für
die moderne bürgerliche Rationalität ein Paradox. Den Tod als natürlich, profan
und irreversibel zu begreifen, konstituiert zwar die »Aufklärung« und die
Vernunft, aber es befindet sich in einem scharfen Widerspruch zu den
Prinzipien bürgerlicher Rationalität — den individuellen Werten, dem
unbegrenzten Fortschritt der Wissenschaft und der Naturbeherrschung in
jeder Form. Als »natürliche Tatsache« neutralisiert, wird er nach und nach
zu einem Skandal. Die moderne Wissenschaft hat die Epidemien beseitigt
und uns plausible Erklärungen für die anderen Naturkatastrophen geliefert:
dieNatur hat aufgehört, Hort unseres Schuldgefühls zu sein; gleichzeitig hat
die Technik den Begriff des Zufalls ausgedehnt und erweitert und ihm
darüber hinaus einen völlig anderen Charakter gegeben. Der Zufall ist weder
eine Ausnahme noch eine Krankheit unserer politischen Regime; ebenso
wenig ist er ein korrigierbarer Defekt unserer Zivilisation: er ist die
natürliche Folgeunserer Wissenschaft, unserer Politik,unserer Moral. Der
Zufall ist ein Teilunserer Fortschrittsidee, so wie Zeus'Lüsternheit und
Indras Rausch undVöllerei Teil der griechischenbeziehungsweise der
vedischen Kultur /:waren. . . . Der Zufall hat sich in einParadox der
Notwendigkeit verwandelt:er besitzt ihre Unausweichlichkeit unddie
Unbestimmtheit der Freiheit. DerNicht-Körper, verwandelt in materialistische
Wissenschaft, ist gleichbedeutend mit dem Schrecken: der Zufall ist eines
der Attribute der Vernunft, die wir anbeten. Er ist das schreckliche Attribut,
wie der   StrickShivas oder der Blitzstrahl Jupiters:
Die christliche Moral hat ihm ihreUnterdrückungsgewalt abgetreten,
abergleichzeitig hat sich jeder moralischeAnspruch von dieser
übermenschlichenMacht zurückgezogen. Er ist dieWiederkehr der Angst der
Azteken,wenn auch ohne himmlische Vorzeichenoder Zeichen. Die
Katastrophe wirdbanal und lächerlich, weil der Zufallletzten Endes nur ein
Unfall ist.  Es gibtfür uns keine Rituale der Sühne oderVersöhnung mehr:
der Unfall ist absurdwie der Tod, ein Punkt, das ist alles. Erentsteht durch
Sabotage. Ein tückischerDämon, der bewirkt, dass diese schöneMaschine
immerzu kaputtgeht. So istdiese rationalistische Kultur wie keineandere von
einer kollektiven Paranoia ergriffen. Alles — die winzigste Störung, die
geringste Unregelmäßigkeit, die kleinste Katastrophe, ein Erdbeben, ein
einstürzendes Haus, schlechtes Wetter — ist ein Attentat, für das es einen
Verantwortlichen geben muss. Das Anwachsen von Sabotage, Terrorismus
und Banditentum ist weniger wichtig als die Tatsache, dass alles, was
vorkommt, in diesem Sinne interpretiert werden muss. Zufall oder nicht?
Der Zufall kann nur einem menschlichen Willen zugestanden werden, oder
politisch als Anschlag auf die gesellschaftliche Ordnung. Und es ist richtig:
eine Naturkatastrophe ist nicht nur durch die von ihr hervorgerufene
wirkliche Unordnung eine Gefahr für die etablierte Ordnung, sondern auch
durch den Schlag, den sie jeder souveränen und auch politischen
»Rationalität« versetzt.

Bemerkenswert ist, dass wir inmitten des Systems der Vernunft und mit der
vollen logischen Konsequenz dieses Systems zur »primitiven« Sichtweise
zurückgekehrt sind und jedem Ereignis und insbesondere dem Tod einen
feindlichen Willen unterstellen.

Der biologischen Definition des Todes und dem logischen Willen der Vernunft
korrespondiert eine ideale und genormte Form des Todes: der »natürliche«
Tod. Das ist ein »normaler« Tod, da er am »Ende des Lebens« eintritt. Sein
Begriff verdankt sich der Möglichkeit, die Grenzen des Lebens
hinauszuschieben: das Leben wird zu einem Akkumulationsprozeß, und mit
dieser quantitativen Strategie kommen Wissenschaft und Technik ins Spiel.

Wissenschaft und Technik gelingt es keineswegs, einen ursprünglichen
Wunsch, so lange wie möglich zu leben, zu erfüllen — nur ein Übergang
vom Leben zum Lebens-Kapital (zu einer quantitativen Bewertung) wird
durch die symbolische Außerkraftsetzung des Todes erreicht, die allein
Wissenschaft und biomedizinische Technik zur Verlängerung desLebens
hervorruft.
Der natürliche Tod bedeutet also keine Akzeptierung eines
Todes, der zur »Ordnung der Dinge« gehörte,sondern eine systematische
Leugnung des Todes. Der natürliche Tod unterliegt der Rechtsprechung der
Wissenschaft und wird von der Wissenschaft tendenziell abgeschafft. Im
Klartext bedeutet das: der Tod ist unmenschlich, irrational und sinnlos wie
die ungebändigte Natur (der abendländische »Natur«-Begriff ist immer
derjenige einer verdrängten und domestizierten Natur). Es gibt nur einen 
guten Tod, den besiegten und dem Gesetz unterworfenen: das ist das Ideal
des natürlichen Todes. Jedem soll es möglich sein, sein biologisches Kapital
auszuschöpfen und sein Leben »bis zur Neige« ohne Gewalt oder
vorzeitigen Tod zu genießen. So als ob jeder sein kleines Lebensschema,
seine »normale Lebenserwartung« und einen»Lebensvertrag« in der Tasche hätte —
daher der soziale Anspruch auf eineLebensqualität, zu der ein natürlicher
Todgehört. Ein neuer Gesellschaftsvertrag:Die ganze Gesellschaft mit
ihrer Wissenschaft und Technik wird gemeinsam verantwortlich für den Tod
jedes Individuums. Dieser Anspruch kannübrigens die existierende Ordnung
ebenso in Frage stellen, wie quantitativeAnsprüche und Lohnforderungen: die
Forderung einer gerechten Lebensdauerwie die einer gerechten Entlohnung der
Arbeitskraft. Im wesentlichen verdecktdieses Recht, wie alle anderen, eine
repressive Ausübung des Rechtes.

Jeder hat das Recht, aber gleichzeitig auch  die Pflicht eines natürlichen Todes.
Dass jeder ein Recht auf sein Leben hat   (habeas corpus - habeas vitam), bedeutet
eine Ausdehnung der gesellschaftlichenRechtsprechung auf den Tod. Der Tod ist
vergesellschaftet wie alles andere: er kannnur noch natürlich sein, denn jeder andere
Tod wäre ein gesellschaftlicher Skandal,den man überflüssig gemacht hat.
Gesellschaftlicher Fortschritt? Nein: einFortschritt des Gesellschaftlichen,
dassich selber mit dem Tode verbindet. Jederist seines Todes enteignet, es
ist ihm nichtmehr möglich, so zu sterben, wie er esmöchte. Er ist nicht
einmal mehr so frei,so lange wie möglich zu leben.         Was unter anderem
ein Verbot bedeutet, sein Lebenungeachtet seiner Grenzenauszuschöpfen.
Das Prinzip desnatürlichen Todes entspricht einerNeutralisierung des Lebens
schlechthin.

Ebenso ist es mit der Frage derGleichheit vor dem Tode:
Das Lebenmuss auf Quantität (und der Tod folglich auf
ein Nichts) reduziert werden, um es der Demokratieund dem
Äquivalenzgesetz anzupassen.

GREISENTUM UND DRITTES LEBENSALTER.
Auch hier tritt derSieg der Wissenschaft über den Tod inWiderspruch zur
Rationalität desSystems: das dritte Lebensalter wird fürdie gesellschaftliche
Verwaltung zu einer gewaltigen toten Last. Ein ganzer Teil des gesellschaftlichen
Reichtums (Geld und moralische Werte) verpufft, ohne dem Alter einen Sinn geben zu
können. So wird ein Drittel der Gesellschaft in einen Zustand der Sonderung und
desökonomischen Parasitentums versetzt. Die dem Terrain des Todesabgerungenen 
Gebiete sindgesellschaftlich verwüstet. Das erstkürzlich kolonialisierte
Greisentum dermodernen Zeit lastet auf dieserGesellschaft mit dem gleichen
Druck wiedie seinerzeit kolonialisierten Völkerder Eingeborenener.
Der Ausdruck Drittes Lebensalter sagt genau, was er beinhaltet: eine Art von Dritter
Welt.

Es ist nicht mehr als ein marginaler und schließlich sogar
asozialerLebensabschnitt — ein Ghetto, einAbschub, ein Vorfeld des Todes.
Es ist eigentlich eine Liquidierung desGreisentums. In dem Maße wie die
Lebenden viel länger leben und über denTod »triumphieren«, werden sie
nichtlänger symbolisch anerkannt. Zu einemTode verurteilt, der ständig
zurückweicht,verliert dieses Alter seinen Rang und seine Vorrechte. In
anderen gesellschaftlichen Formationen existiert das Greisentum als
wirklicher symbolischer Angelpunkt der Gruppe.Der Status des Greises, der
durch den desAhnen vollendet wird, ist derangesehenste. Die »Jahre« sind
ein realerReichtum, für den man Autorität undMacht eintauscht, im
Gegensatz zurheutigen Zeit, wo die »gewonnenen«Jahre nur zählbare Jahre
sind:akkumuliert, ohne dass man sie eintauschen könnte.

Die verlängerte Lebenserwartung hat also nur zu einer Diskriminierung des Alters geführt,
die sich aus der Diskriminierung des Todes ergibt und entwickelt. Das
»Gesellschaftliche« hat hier ausgezeichnet gearbeitet.        Es hat diesen
Lebensabschnitt vergesellschaftet,indem es ihn in sich selber eingeschlossen
hat. Unter dem gewinnbringenden Zeichen des natürlichen Todes hat es aus
ihm einen vorweggenommenen gesellschaftlichen Tod gemacht, »Das ganze
Problem seines (Tolstojs) Grübelns drehte sich zunehmend um die Frage: ob
der Tod eine sinnvolle Erscheinung sei oder nicht. Und die Antwort lautet
bei ihm: für den Kulturmenschen — nein. Und zwar deshalb nicht, weil ja
das zivilisierte, in den „Fortschritt“, in das Unendliche hinein gestellte
einzelne Leben, seinem immanenten Sinn nach, kein Ende haben dürfte.
Denn es liegt ja immer noch ein weiterer Fortschritt vor dem. der darin
steht; niemand, der stirbt, steht auf der Höhe, welche in der Unendlichkeit
liegt. Abraham oder irgend einBauer der alten Zeit starb alt und
 „lebensgesättigt",weil er im organischen Kreislauf des Lebens stand, weil
sein Leben - auch seinem Sinn nach- ihm am Abend seiner Tage gebracht
hatte, was es bieten konnte, weil für ihn keine Rätsel, die er zu lösen
wünschte, übrigblieben und er deshalb „genug“ daran haben konnte. Ein
Kulturmensch aber, hineingestellt in die fortwährende Anreicherung der
Zivilisation, mit Gedanken, Wissen, Problemen, der kann lebensmüde
werden, aber nicht: lebensgesättigt.
Warum hat der erwartete Und vorhergesehene Alterstod, der Tod in der Familie
- welcher von Abraham bis zu unseren Großvätern als einziger einen vollen Sinn
für die traditionelle Gemeinschaft hatte - diesen Sinn heute nicht mehr? Eine üble
Ausbeutung des Todes durch die Medien?
Nein: sie begnügen sich, damit zu arbeiten, dass die einzigen Ereignisse, die für
alle ohne Kalkül oder Umweg unmittelbar bedeutsam sind, diejenigen Ereignisse
sind, die auf die eine oder andere Weise den Tod ins Spiel bringen. In diesem
Sinne sind die übelsten auch die objektivsten Medien. " Der »natürliche« Tod ist
sinnlos, weil die Gruppe daran keinen Anteil hat. Er ist banal, weil er mit dem
banalisierten individuellen Subjekt und der banalisierten Familienzelle verbunden
ist und weil er nicht mehr kollektives Freud und Leid ist. Jeder beerdigt seine
Toten. Bei den Primitiven gibt es keinen »natürlichen« Tod: jeder Tod ist
gesellschaftlich, öffentlich und kollektiv, und er ist immer die Wirkung
eines gegnerischen Willens, der durch die Gruppe (nicht die Biologie)
absorbiert werden muss. Bei uns macht der Tote sich aus dem Staube. Er hat
nichts mehr auszutauschen. Bereits bevor er stirbt, ist er ein Residuum. Er
ist am Ende eines Lebens der Akkumulation und wird vom Ganzen
abgezogen: eine ökonomische Operation. Er wird zu keiner Erinnerung:
höchstens dient er als Alibi der Lebenden ( und der evidenten Überlegenheit
der Lebenden über die Toten. Das ist ein banaler, eineindimensionaler Tod,
das Ende einesbiologischen Parcours, die Bezahlungeiner Schuld: »den
Geist aufgeben«, wieein Reifen, der seine Luft verliert. WelchePlattheit!

'Man sagt, durch Beschleunigung könneman Zeit gewinnen, doch das Gegenteil„
ist der Fall — die Beschleunigungverschlingt unsere zeitlichen Reserven
ebenso, wie unsere räumlichen Reserven; sie ernährt sich von der Zeit, sie ist
chronophag. Und so stehenwir vor einem Zeitmangel oder voreiner Zeitkrise
— nicht so sehr in demSinne, dass wir immer mehr Zeit zuverlieren hätten,
als vielmehr in dem Sinn, dass nicht mehr genügend Zeit vorhanden ist.
DieBeschleunigung, unsere Mobilität,unser Informationsfluss und
allesandere nähren sich mit Zeitstoff, undes wird bald nicht mehr
genügendübrig sein, um die Ernährung sicher zu stellen.

Geschichte, Sinn und Fortschritt erreichen nicht mehr ihre Befreiungsgeschwindigkeit.
Es gelingt ihnen nicht mehr, sich von diesem vielzu dichten Körper zu lösen,
der ihreBahn und die Zeit derartig verlangsamt,dass uns von jetzt an die
Wahrnehmungund Vorstellung von Zukunft entgleitet.
                                                                         
Jede gesellschaftliche, geschichtliche und zeitliche Transzendenz wird
von dieser Masse in ihrer schweigenden Immanenz absorbiert. Die
politischen Ereignisse haben schon keine Eigenenergie mehr, die
ausreichendwäre, um uns in Bewegung zuversetzen; sie laufen wie
einStummfilm ab, für den wir kollektiv nicht verantwortlich sind.

 

Hier endet die Geschichte, und zwar nicht, weil es an Akteuren, an Gewalt
 (die Gewalt nimmt immer mehr zu) oder an Ereignissen (dank der Medien und
derInformationstechnik gibt es immer mehr Ereignisse!) fehlt, sondern
wegen der Verlangsamung, Gleichgültigkeit und Abstumpfung. Die
Geschichte schafft es nicht mehr, über sich hinauszugehen, ihre eigene
Endlichkeit ins Auge zu fassen und von ihrem eigenen Ende zu träumen, sie
wird in ihrer unmittelbaren Wirkung begraben, sie erschöpft sich in »special
effects« und implodiert in Aktualität. Im Grunde kann man nicht einmal
vom Ende der Geschichte sprechen, denn sie wird nicht einmaldie Zeit
haben, ihr eigenes Endeeinzuholen. Ihre Wirkungenbeschleunigen sich,
aber ihr Sinnverlangsamt sich unerbittlich. Sie wirddamit enden, daß sie
anhält underlischt, so wie das Licht und die Zeitim Umfeld einer
unendlich dichtenMasse...

JEAN BAUDRILLARD FRANZÖSISCHER PHILOSOPH, SOZIOLE, SCHRIFTSTELLER,
AUSWAHL DER TEXTE     PETERFRICKE


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